[Meinung] Es wirkt eher unscheinbar, dieses Land mit König und Parlament, welches vom Himalaya-Gebirge durchzogen wird. Gut 80 Prozent der Fläche liegen auf über 2.000 Metern Höhe. Ein Land, das vor etwa 15 Jahren den unblutigen Übergang von der absoluten Monarchie in eine Demokratie geschafft hat. Die Rede ist von Bhutan.
Glück und Wohlbefinden stehen in Bhutan an erster Stelle
Dabei hat dieses Land eine Eigenschaft, die im weltweiten Vergleich eher nachrangig genannt wird. Bhutan ist ein glückliches Land. Nicht etwa, weil die Menschen so freundlich sind – um das beurteilen zu können, müsste man wohl dort gewesen sein – aber weil es so in der Verfassung steht. Jegliches staatliche Handeln soll sich laut Artikel 9 der Verfassung darum bemühen, das Ziel des „Bruttonationalglücks“ einzuhalten.
Das „Bruttonationalglück“ bildet die politische und philosophische Grundlage für das Land, das etwa so groß ist wie die Schweiz. Staatliche Bestrebung ist nicht etwa, Wohlstand und Wirtschaftswachstum an erster Stelle zu fördern, sondern das Glück und Wohlbefinden der Einwohner*innen.
Bruttonationalglück versus Wohlstand für Alle
Was diese Asiatische Realutopie schon seit einigen Jahren umsetzt, ist die Messung des Wohlbefindens. Dafür werden in einem festen Rhythmus die Einwohner*innen zu verschiedenen Aspekten ihres Lebens befragt. Der Lebensstandard, die mentale Gesundheit, die eigene Bildung und das Empfinden gegenüber der Regierungsgewalt sind Teil der Indikatoren, die in das „Bruttonationalglück“ eingehen. Das staatliche Handeln soll sich an diesem orientieren und nicht wie in den meisten Ländern am Bruttosozialprodukt, also nicht an der Wirtschaftsleistung des Landes.
Aber was wäre, wenn wir dieses Konzept auf Deutschland anwenden würden? Wo würden wir als Gesellschaft dann stehen? Deutschland ist in erster Linie ein wirtschaftlich geprägtes Land. Das Leitbild „Wohlstand für Alle“ möchte spätestens seit den 1950er-Jahren die deutsche Gesellschaft zeichnen. Es war der Titel des Buches, dass der damalige Bundeswirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) 1957 veröffentlicht hat. Er legt dort seine Vorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft dar.
In über sechs Jahrzehnten hat sich auf der Basis „Wohlstand für alle“ viel getan. Durchaus sind viele positive Errungenschaften auf dieses Motiv zurückzuführen. Und über mindestens ebenso viele Entwicklungen lässt sich – gelinde gesagt – streiten. Es zeigt sich zunehmend, dass „Wohlstand für Alle“ nicht mehr Maxime sein kann. Ein neuer Denkansatz ist notwendig; im Sinne der Menschen und nicht zuletzt der Umwelt. Denn: Reichtum bemisst sich nicht nur monetär. Reichtum hat viele Facetten. Dieser Begriff muss ausgedehnt werden, weil er in der jetzigen Form verkürzt.
Bruttonationalglück: Mehr als nur Grundbedürfnisse
Natürlich kann es keine Lösung sein, eine aus der Luft gegriffene Einheit zu erschaffen, die jeglicher Grundlage entbehrt. Doch bei allen Parametern, die Aussage über einen Zustand treffen wollen, werden Indikatoren herangezogen, um diese Aussage zu erzeugen. Auch bei einem „Bruttonationalglück“ kann das funktionieren – Bhutan macht es vor. Es geht um das Wohlbefinden und Glück der Menschen. Ausdruck hierfür könnte etwa der Grad an Selbstverwirklichung sein oder der Grad an Chancen, die man dem eigenen Leben zumisst. Aber auch der eigene Bildungsstand oder die psychische Gesundheit können Teil dieser Betrachtung sein.
Faktoren, die einseitig Grundbedürfnisse bemessen, werden in diesem neuen Konzept überarbeitet. Es kommt also nicht nur darauf an, wie viel ein Mensch verdient, wie viel dieser Mensch arbeitet oder wie groß der Wohnraum ist, den dieser Mensch für sich in Anspruch nimmt. Dieses neue Konzept des „Bruttonationalglücks“ gibt sich nicht mit Grundbedürfnissen zufrieden, sondern zeugt von einer tieferen Auseinandersetzung mit den Lebensumständen der Menschen.
Der Mensch als eigene Größe, nicht als Wirtschaftsfaktor
Im schlimmsten Fall wendet sich bei der Fokussierung auf das „Bruttonationalglück“ der Blick von der Wirtschaft weg. Deutschland würde seine Stellung in der weltweiten Exportrangfolge einbüßen. Es würden weniger Steuern eingenommen werden, dadurch hätte der Staat weniger Handlungsmöglichkeiten – und könnte so auf kurze Sicht auch weniger für das Wohlbefinden der eigenen Bürger*innen leisten.
Im besten Fall ziehen andere Länder nach. Viele Teile der Welt könnten schonender mit Ressourcen umgehen. Die Umwelt würde die Anerkennung und Pflege bekommen, die sie verdient. Die Menschen würden nicht mehr als Wirtschaftsfaktor, sondern als eigene immanente Größe wahrgenommen werden – und die Gesellschaft könnte so auf lange Sicht aufgewertet werden.
Es lässt sich nicht leugnen, dass eine Umkehr zur Achtsamkeit gerade Trend ist. Aber nicht jeder Trend ist schlecht. Die Frage, die durch das „Bruttonationalglück“ gestellt wird, lautet: Wie können Mensch, Wirtschaft und Umwelt gemeinsam funktionieren? Und dass diese Frage in Zukunft noch viel wichtiger wird, sollte unstrittig sein. Spätestens dann, wenn die Gesellschaft merkt, dass ihre Ressourcen begrenzt sind.
Dieser Beitrag ist ein Meinungsbeitrag und spiegelt den Standpunkt des*der Redakteur*in zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wider.