Neben Krankheiten plagt Menschen im Alter ebenfalls die Einsamkeit. In Deutschland sind 16 Prozent der über 80-Jährigen alleine. Meine Oma ist eine von ihnen. Eine persönliche Reportage.
Wie von alleine bewegt sich mein Daumen über den Ziffernblock und wählt deine Nummer. „Schiffel“, ertönt es am anderen Ende der Leitung nach wenigen Sekunden, als hieltest du das Telefon immer in der Hand. „Hallo Omi, ich bin’s“. „Lisa, hallo!“ sagst du jedes Mal und klingst dabei ein wenig überrascht, sodass ich mir still überlege, wann ich dich zuletzt angerufen habe. Jedes Mal denke ich, dass es viel zu lange her ist, auch wenn ich dich erst vor wenigen Tagen gesprochen habe. Dein Mann, Karl-Heinz, ist 1992 gestorben, seit 24 Jahren lebst du also alleine in deiner 3-Zimmer-Wohnung, die Kinder längst ausgezogen. Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes sind 16 Prozent der über 80-Jährigen alleine, du gehörst dazu. Als Kind war ich an jedem Wochenende bei dir – wir sind zusammen mit der Fähre nach Finkenwerder gefahren, um Opa auf der Elbe „zu besuchen“, du bist mit mir auf dem Dom in die Geisterbahn gegangen, hast mir jedes Wochenende mein Lieblingsessen gekocht, mit mir Kokosmakronen gebacken und mir sogar ein Hochzeitskleid genäht, damit unser Hochzeitsspiel vor Opas alter Holztruhe noch echter wirkte. Du hast stets so getan, als hättest du keine Ahnung, warum ich unter dem Tisch die Karten mische und jedes Geheimnis für dich behalten. Heute bin ich 21 und die Wochenenden, die ich bei dir verbracht habe, verbringe ich mit meinem Freund, wie es wahrscheinlich jedes Mädchen in meinem Alter tut. „Alt und grau kannste werden, nur nicht krank“ , sagst du nahezu in jedem unserer Gespräche und damit hast du recht. Wahrscheinlich sitze ich irgendwann genau wie in einem Sessel und sage „meine Oma hat immer gesagt „alt und grau kannste werden, nur nicht krank““. An das letzte Übernachtungswochenende kann ich mich genau erinnern. Wir hatten uns gerade etwas zu Knabbern und Brause bereitgestellt – gleich sollte „Wetten, dass..?“ beginnen. Auf einmal hast du über Schmerzen im linken Arm und Kopfschmerzen geklagt, deine Worte klangen verwaschen. Herzinfarkt. Ich habe sofort den Krankenwagen gerufen und so wahrscheinlich dein Leben gerettet, wie du immer sagst. Stark wie du bist, bist du nach einer Zeit im Krankenhaus wieder komplett gesund geworden und hast keine bleibenden Schäden davongetragen. Um mir zu zeigen, wie dankbar du bist, hast du mir eine kleine rote Herzschachtel geschenkt. Darin fand ich Geld und einen herzförmigen Zettel mit den Worten „Meine ganz große Lisa! Ich kann nur eines sagen: Danke, danke, danke, danke, danke, danke! Deine Omi.“ Auch wenn du heute nicht wirklich krank bist, macht sich das Alter bei dir bemerkbar. Alleine aus dem vierten Stock runterzukommen, sei es nur zum Briefkasten, ist heute schier unmöglich. „Es ist furchtbar, immer auf andere angewiesen zu sein“, sagst du. Genauso schlimm ist es für dich sicherlich, alleine zu sein, auch wenn du uns das selten spüren lässt. Gelesen hast du nie gerne, lieber hast du gehäkelt, aber auch das ist dir heute körperlich zu anstrengend. Der Fernseher gestaltet deinen Tagesablauf, sodass du zumindest unterhalten wirst. Du verpasst keine Sendung von Wer wird Millionär, Bingo, Wer weiß denn sowas?, Mein Nachmittag und Immer wieder sonntags, auch wenn du selbst sagst, dass es immer dasselbe ist. „Manches Mal hab’ ich die Schnauze voll, allein’ zu sein“, sagst du am Telefon und ich will am liebsten sofort zu dir fahren, aber meine Verpflichtungen erlauben keine Änderung des Tagesplans und es muss bei einem Telefonat bleiben. Auch wenn es uns bereits eine Sekunde nach dem Gedanken leid tut, ärgern wir uns manchmal, dass Gespräche mit dir meist in dieselben Erzählungen und Floskeln münden. Aber was sollst du uns schon an Neuigkeiten berichten, wenn doch jeder Tag gleich abläuft? Damals hast du viel erlebt. „Ich habe nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben, alles was ich mir gewünscht habe, hatte ich“, antwortest du mir auf die Frage, ob du in deinem Leben irgendwas verpasst hast. Du hast den Zweiten Weltkrieg miterlebt, hast beim Roten Kreuz gearbeitet, bist mit Opa durchgebrannt, ihr seid durch die Nächte getanzt und hattet Sex im Schnee – hattest eben genauso deine Jugend, wie wir sie jetzt haben. Du hast zwei Kinder bekommen – einen Sohn und eine Tochter, meine Mutter. Du hast mit deinem Mann eine glückliche Ehe gehabt, bis er viel zu früh gegangen ist und du eure Goldene Hochzeit alleine feiern musstest. Der Porzellanlöwe in deiner Wohnzimmerecke trägt Opas Namen, sodass du das Gefühl hast, er ist trotz allem irgendwie da.