Am Donnerstag feierte der Film „Kokon“ seine Hamburg-Premiere im Studio-Kino. Zu einem anschließenden Gespräch wurde die Regisseurin Leonie Krippendorff („Looping“) zugeschaltet. Der sommerliche Ausflug ins Kino statt zum See ist absolut lohnenswert.
Sommer im Herzen, Sommer auf der Leinwand
Ich trage den getrockneten Schweiß des vergangenen Sommertages auf meiner Haut, als ich den Kinosaal betrete. Warum genau habe ich mich entschieden, mitten im Sommer ins Kino zu gehen? Eine Hitzewelle wie diese weckt bei den meisten Menschen die Lust, das gute Wetter zu nutzen und möglichst viel Zeit unter freiem Himmel zu verbringen. Inmitten hoher Temperaturen, wie Hamburg sie gerade durchlebt, kann es allerdings auch sehr attraktiv sein, sich nach Untergang der Sonne in die klimatisierten Räume eines Kinos zu begeben. Der Film „Kokon“ gab mir keine Pause von dem Sommer, der draußen herrschte, sondern brachte diesen in eine andere Dimension: Ich spürte einen vergangenen Sommer auf der Haut. Den Berliner Sommer des Jahres 2018. Nächte in rot-dunklem Licht, satt ausgeleuchtete Tage. Auch die Darstellenden tragen den Schweiß auf der Haut und die Müdigkeit in den Augen. „Kokon“ schafft es dank tatsächlicher Hitzewelle zur Zeit des Drehs und Farbkorrekturen in der Postproduktion, ein authentisches Sommergefühl zu vermitteln. Die Charaktere verbringen die meiste Zeit im Freibad oder am See und auch ich bekomme Lust mich am nächsten Tag wieder ins Wasser statt in den Kinosessel zu begeben.
Eine Ode an die Pubertät, die Entdeckung des Ichs
Leonie Krippendorff erzählt mit „Kokon“ die Geschichte von Nora, gespielt von Lena Urzendowsky (bekannt aus der neuesten Staffel „How To Sell Drugs Online Fast“). Nora ist 14 Jahre alt und wohnt mit ihrer wenig älteren Schwester Jule und meist abwesenden Mutter Vivienne am Kottbusser Tor, mitten im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Neben ihrem Bett hat Nora eine Raupenzucht aufgebaut. Alte Weckgläser dienen den kleinen vielfüßigen Larven als Zuhause. Noras Hobby stellt nicht nur einen Bezug zum Namen des Filmes her, sondern viel mehr noch zu Nora selbst. Die Raupe als Beginn der Entwicklung, die die Entstehung eines Schmetterlings zum Ziel hat. Der Kokon als Zwischenstadium, als Teil der Verwandlung.
Auch Nora durchlebt in diesem Sommer 2018 eine Verwandlung. Sie menstruiert zum ersten Mal, sie verliebt sich und entdeckt ihre Sexualität. All das zeigt „Kokon“ ohne schambehaftete Klischees zu reproduzieren und ohne die Charaktere bloß- oder auszustellen. Noras Menstruation ist kein schüchterner rosa Fleck in ihrer Unterhose, sondern entspricht dem Bild einer authentischen mittelstarken ersten Blutung. Ein (noch) seltenes Bild auf der großen Leinwand, aber erfrischend real. Das Thema Masturbation wird ebenfalls behandelt. Hier gelingt der darstellerische Spagat zwischen Andeutung und impliziten Bildern, ohne zu tabuisieren, ohne zu verhüllen. Weibliche Lust und Sexualität dargestellt von Frauen durch Frauen ist in Kinos patriarchaler Gesellschaftsformen noch immer unterrepräsentiert. Allein unter diesem Aspekt ist „Kokon“ sehenswert.
Ihre erste Liebe, die sie zu Romy, einem Mädchen aus dem Jahrgang ihrer Schwester, entwickelt, wird leichtfüßig illustriert. Ausflüge zum See und Musik Hören über den Dächern Berlins, lange Blicke und unbeschwerte Nähe. Obwohl Nora in ihrem Umfeld mit Homophobie und Heteronormativität (siehe Artikel: Auf der Suche nach dem “normalen” Leben von Henrike Notka) konfrontiert wird, ist weder Kampf noch Widerstand Noras gegen ihr Begehren zu spüren. Das ist durchaus ungewöhnlich für Coming-of-Age-Filme, die Homosexualität thematisieren. „Kokon“ zeigt wie schön, aber vor allem wie unkompliziert die Entdeckung der Sexualität sein kann, auch wenn diese nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht.
Nora durchlebt also einen turbulenten Sommer, der ihre Entwicklung von einem Mädchen zu einer Frau zeigt. Analog dazu entwickeln sich die Raupen neben ihrem Bett zu Faltern. „Eine plakative Metapher“, sagt Regisseurin Leonie, „die allerdings in der Lage ist, große Emotionen zu transportieren“.
Was bleibt nach der Verwandlung?
Ein wenig Nora kann wohl jede*r Zuschauende in sich entdecken. Umbrüche, schwierige Familienverhältnisse, erste Liebe, Menstruation, Selbstfindung und Herzensbrüche. All das sind Themen und Fragen, die für viele Menschen Teil der Pubertät sind. Auch stilistisch wird sich diverser Mittel bedient, die Nora als Protagonistin mit Identifikationspotenzial versehen. Durch das wiederholte Einspielen formal abweichender Ausschnitte eines Videotagebuchs von Nora, werden tiefere Einblicke in ihre Gedankenwelt und eine unmissverständliche Nähe zu ihr gewährt. Eine distanzlose, leicht wackelige Kameraführung, die Nora durch das Berliner Nachtleben begleitet sowie zahlreiche Close-Ups ihres Gesichtes, erleichtern es den Zuschauenden, einen Zugang zu ihrer Person zu finden.
Ein kritischer Blick
Was der Film versagt zu repräsentieren, ist Diversität. Schwarze Menschen und People of Color sind nur in Nebenrollen zu finden, ihre Charaktere bleiben zumeist eindimensional. Die Protagonist*innen, die im Zentrum des Filmes stehen, sind ausschließlich weiß und weiblich. Im Rahmen einer feministischen Betrachtungsweise mehr als löblich, aber eine Verfehlung des Anspruches, diese intersektional zu vermitteln. Menschen mit sichtbaren Behinderungen werden keinerlei Rollen gegeben. „Kokon“ gibt somit kein realistisches Bild einer vielfältigen deutschen Gesellschaft wieder.
Was bleibt für mich?
Der Film macht es leicht, mich Nora nah zu fühlen und regt an, in Erinnerungen vergangener Sommer zu schwelgen. Ich war und bin Nora gleichermaßen, erkenne so viel von mir, meinem vergangenen und gegenwärtigen Ich, in ihr wieder. Ein schönes Gefühl – ein nach Hause Kommen der Identität.
„Kokon“ läuft ab dem 13.08.2020 in vielen deutschen Kinos. Mehr Infos und die Spielstätten findet ihr unter: https://www.salzgeber.de/kokon