Ein Kommentar.
Trotz vieler Misstände werden die Absolvent*innen aller Bundesländer gezwungen, das Abitur zu absolvieren. Die Minister*innen bleiben stur; dabei spricht alles für ein sofortiges Einlenken.
[Meinung] Lange hatten wir Abiturient*innen gehofft, dass die Kultusminister*innen noch zur Vernunft kommen würden. Es schien undenkbar, unter den gegebenen Umständen Prüfungen zu absolvieren. Zu fürchten hatten wir um unser aller Gesundheit, zu leiden unter psychischen Belastungen. Eingeschränkte Lernmilieus machten ein angemessenes Lernen unmöglich.
Was ist mit dem Durchschnittsabitur?
Früh wurde der Vorschlag laut, für den diesjährigen Jahrgang das Durchschnittsabitur einzuführen. Auch Politiker*innen setzten sich dafür ein: Die Kultusministerin Schleswig-Holsteins, Karin Prien, forderte die Absage aller Abiturprüfungen. Rückendeckung bekam sie dabei von den Schüler*innen: Eine zehntausendfach unterschriebene Petition und zahlreiche Protestseiten im Internet zeugten von einer geschlossenen Protest-Front. Sogar der Schulleiterverband Niedersachsens hatte mit Verweis auf die Gesundheitsrisiken einen Abbruch der Abiturprüfungen gefordert.
Aber es half alles nichts. In Priens Richtung fielen von der Kultusministerkonferenz «sehr deutliche Worte». Proteste und Kritik von Schüler*innen und Lehrer*innen blieben hingegen vergeblich. Während Italien, die Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Portugal und Spanien nach und nach ihre Prüfungen absagten, beharrten die deutschen Minister*innen eisern auf ihren Beschlüssen.
Aber wofür das Ganze? Wie rechtfertigen die Politiker*innen eine so unverantwortliche Politik?
Rechtfertigung der Politiker*innen
Ihre Argumentation bleibt dürftig. Der Hamburger Schulsenator, Ties Rabe, bemängelte beispielsweise, dass das geforderte Durchschnittsabitur gegenüber den vorangegangenen Jahrgängen unfair sei. Schließlich würden die Abiturient*innen „mit nur 66 % der Leistungen“ einen gleichwertigen Abschluss erhalten. Dabei begeht er jedoch einen Fehlschluss: Zwar stellen die Abschlussklausuren ein Drittel der Abiturnote; gegenüber vier Semestern sind drei Abiturklausuren jedoch von keiner großen Bedeutung. Mit dem Vorabitur (drei fünfstündige Prüfungen), dutzenden Klausuren und Präsentationen wurde das Fachwissen der Schüler*innen bereits auf das Ergiebigste geprüft. Schlussendlich ist das Abitur nur noch Wiederholung bereits geprüften Wissens. Meist weichen die Klausurnoten auch nicht bedeutend vom Semesterschnitt ab.
Zudem gibt es in Hamburg die Regelung, dass eine Nachprüfung anberaumt wird, falls die Prüfungsnote mehr als 1,5 Notenpunkte unter dem Semesterschnitt liegt. Die Prüfungen können und sollen also keinen großen Einfluss auf die Abiturnote haben. Und sollte ein*e Schüler*in trotzdem durch das Abitur fallen, kann die 12.Klassenstufe immer noch wiederholt werden!
Armin Laschet, Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, erklärte außerdem, dass Abiturient*innen mit dem Durchschnittsabitur Nachteile an Universitäten drohten. Laut dem 1964 geschlossenen „Hamburger Abkommen“, gilt jeder deutsche Schulabschluss in ganz Deutschland gleichberechtigt. Laut Schulrecht kann eine Universität Studierende somit nicht ablehnen, wenn eine Hochschulreife vorlegt wird. Das Durchschnittsabitur spielt dabei keine Rolle.
Was für ein Durchschnittsabitur spricht
Als diesjähriger Abiturient habe ich die gesamte Situation miterlebt und kann aus persönlicher Erfahrung erzählen. „Vergleichbare Maßstäbe über die Jahrgänge hinweg“, wie es sich Ties Rabe erhofft, bestanden zu keinem Zeitpunkt. Zu prekär waren und sind die Umstände:
Den Schüler*innen fehlt eine angenehme Arbeitsatmosphäre, weil sie wegen Corona um Eltern und Verwandte fürchten müssen oder die Aufsicht über Geschwister haben. Schlimmstenfalls steht deshalb nicht mal ein angemessener Lernraum zur Verfügung. Weiterhin gab es für die Hamburger Abiturient*innen keinen Zugang zu Bibliotheken und Sekundärliteratur, keinen Unterricht, keine Lerngruppen oder Nachhilfestunden.
Dazu kommt das emotionale Gefälle, das sich in den letzten Wochen auftat: Die Abiturient*innen wurden durch den Shutdown aus dem bisher bedeutendsten Teil ihres Lebens herausgerissen. Es gab keine Abschlusszeremonie, keine Mottowoche, keine Feiern, keine Verkleidungen, keinen Abschluss. Von der Schulzeit konnten sie nicht einmal emotional Abschied nehmen. Sind das etwa „vergleichbare Maßstäbe“?
Gesundheitliche Risiken durch Corona
Auch das gesundheitliche Risiko, unter denen die Prüflinge das Abitur absolvieren müssen, ist immens:
Während meiner Mathematikprüfung trugen von 80 Schüler*innen nur zwei Jugendliche einen Mundschutz – vor dem Schulgebäude werden Händchen gehalten, Freunde umarmt, Abstandsregeln missachtet. Wir schrieben mit 30 Personen in einem nicht einmal stündlich gelüfteten Sportraum, durch dessen geöffnete Eingangstür wir jedes draußen gesprochene Wort verstehen konnten. Gebrüll hallte mehrmals durch das Schulgebäude und riss mich aus meiner Konzentration. Auch die Lehrkräfte hielten sich nicht an Vorschriften: Eine Aufsicht war ganz offensichtlich erkältet, ihr kehliges Husten schallte mehrere dutzend Mal durch den gesamten Raum. Noch schlimmer kam es, als sie sich in die erste Reihe stellte und einem Schüler direkt vor die Füße hustete.
In manchen Prüfungsräumen (z.B. in der Sporthalle) ist ein angemessenes Lüften auch gar nicht möglich, da die Fenster nicht angemessen geöffnet werden können. Verständlich ist gleichzeitig, dass die meisten auf eine lästige Maske verzichten. Frische Luft ist wichtig, wenn große Konzentration gefordert ist.
Wenn eine erkrankte Person an den Klausuren teilnimmt, kann das schwere Folgen haben. Schon nach einmaligem Husten nehmen Tröpfchen in weniger als einer halben Stunde den gesamten Raum ein. Bereits nach einer Minute erreichen sie Personen, die sich in der engeren Umgebung befinden. Selbst stündliches Lüften (man beachte, dass während der Mathematik-Prüfung überhaupt nicht gelüftet wurde) kommt bei so einer konzentrierten Keimlast zu spät.
So wiederum werden unsere Mitmenschen gefährdet: Viele Corona-Erkrankungen bleiben unerkannt. Wir Schüler*innen tragen den Virus dann nach Hause, mit der Befürchtung unsere Mütter, Väter und Großeltern anzustecken. Sollte jemand so einer Angst ausgesetzt sein? Angemessener Schutz bleibt unmöglich – dicht an dicht gedrängt laufen wir durch die Eingangstür, berühren dieselben Türklinken, gehen auf dieselbe Toilette.
Erschwerte Prüfungssituation
Und den Schüler*innen meiner Stufe wurde das Leben noch zusätzlich erschwert: Obwohl kurzfristig alle restlichen Kursarbeiten abgesagt wurden (hier achtete man plötzlich auf den Infektionsschutz), nötigte uns eine Lehrerin trotzdem, über die Video-App „Zoom“ mehrere zweieinhalb Stunden-Arbeiten ablegen. Was sie in dieser Situation, mitten in der Abiturvorbereitung, bezwecken möchte? Die Antwort erschließt sich mir nicht. Mit dem Abitur haben die Klausuren auf jeden Fall nichts zu tun,
Die Politiker*innen bemühen sich vergeblich, die Arbeitsverhältnisse auszutarieren; Alles, was sie in Hamburg bewirkten, war eine Verschiebung der Prüfungen um 5 Tage. Dadurch lagen Mathe- und Lateinprüfung nun direkt hintereinander – was nur noch mehr Stress für die Absolvent*innen bedeutet. In Berlin mussten Schüler*innen teilweise 3 Klausuren in 6 Tagen schreiben. Dagegen durften die Abiturient*innen in Hessen bereits im Frühjahr ihr Abitur ablegen und blieben so von der Corona-Krise verschont. Wo bleibt da die versprochene Gerechtigkeit?
Was jetzt nottut
Jetzt ist es vorbei für uns. Das Abitur, welches nicht hätte vollzogen werden dürfen, ist geschrieben. Kein Ende nehmen wollte diese Odyssee aus Angst, Stress und enttäuschter Hoffnung. Aber aus Fehlern kann man lernen: Vielleicht werden die Schüler*innen des nächsten Abiturjahrgangs bessere Arbeitsbedingungen haben, auch wenn Covid-19 dann noch existiert.
Was jetzt nottut, ist ein Einlenken seitens der Minister*innen. Die Jugendlichen und ihre Mitmenschen weiterhin so einer Gefahr auszusetzten, ist fahrlässig. Vorschläge gibt es genug: freiwillig abgelegte Prüfungen, Anhebung der Notenschnitte, Online-Präsentationen. Es ist Zeit zu handeln.
Dieser Beitrag ist ein Meinungsbeitrag und spiegelt den Standpunkt des*der Redakteur*in zum jeweiligen Zeitpunkt der Veröffentlichung wider.