„Fridays for Future“ kommt groß raus – ist dir nicht neu? Ich verspreche dir, in dieser Form schon.
Mit viel Recherche, Selbstreflexion und Tanz näherte sich das Ensemble des Jungen Staatstheaters Parchim den Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz und entwickelte ihr eigenes, ebenso nachhaltiges Stück – oder? Wie hängen reale Verantwortung und theatrale Umsetzung zusammen?
1) So fing es an
Seit September spielt das Junge Staatstheater Parchim (Sparte Kinder- und Jugendtheater des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin) das eigens entwickelte Stück „Fridays for Future“ regelmäßig vor Groß und Klein.
Aber ganz zum Anfang: Greta Thunberg war im März 2019 das erste Mal in Deutschland auf einer Demonstration der Bewegung „Fridays for Future“. Das war ein Ereignis, das viele in Aufruhr versetzte.
Zeitgleich war das auch im Jungen Staatstheater der Fall, allerdings aus anderen Gründen. Es gab einige Komplikationen mit dem Stoff, der für den Auftakt der Spielzeit 2019/2020 eigentlich geplant war.
Also mussten neue Ideen her. „Unser Intendant wollte die Umwelt-Thematik schon immer einmal auf der Bühne sehen. Auch ich fand die Idee gut, Fridays for Future dabei zu helfen, ein Label zu werden. Ich habe die Relevanz für die Gesellschaft, z. B. Schüler*innen, gesehen, für die wir vorrangig Theater machen“, sagt Bianca Sue Henne. Sie ist die stellvertretende künstlerische Leiterin des Jungen Staatstheaters Parchim und Regisseurin der Inszenierung.
Das spontane Umdisponieren stellte sie und ihr Ensemble vor einige Herausforderungen, brachte jedoch auch neue Möglichkeiten mit sich.
2) So entsteht eine Theaterinszenierung
Im Frühjahr eines Kalenderjahres steht der Spielplan für die kommende Spielzeit, die wie ein Schuljahr von Sommer bis Sommer läuft, fest. Wenn ein Stoff, also eine Geschichte oder ein Titel einer Inszenierung in diesem Rahmen festgelegt wird, sucht sich das Theater meist zunächst eine Person, die Regie führt. Diese*r kann aus dem eigenen Repertoire an Mitarbeiter*innen kommen oder von extern. In diesem Fall stand Bianca Sue Henne als Regisseurin fest.
Daraufhin beschäftigt sich die regieführende Person mit dem Stück. Sie sucht sich eine geeignete Textform eines Autoren oder einer Autorin aus und arbeitet mit einer oder einem Dramaturg*in, Bühnen- und Kostümbildner*in zusammen. Sie setzen den Stoff publikumsgerecht und zum Haus passend künstlerisch um.
Bei „Fridays for Future“ kam außerdem der Choreograf David Roßteutscher zum Team dazu. Alle anderen Rollen hinter den Kulissen übernahmen die Mitarbeiter*innen des Jungen Staatstheaters.
In der letzten Phase der Produktion kommen die Schauspieler*innen dazu. Danach folgen noch die Aufführungen.
„Vor der Produktion wurden wir diesmal gefragt, wer sich die Arbeit an diesem Thema vorstellen kann und Lust darauf hat“, sagt Svea Bein, eine der drei Schauspielerinnen am Jungen Staatstheater in Parchim.
Dann wird – neben den Absprachen und Vorbereitungen mit der Requisite, der Schneiderei, der Bühnentechnik, der Theaterpädagogik etc. – geprobt. Zunächst der Text, dann immer mehr mit der Umsetzung auf der Bühne zusammen.
„Für eine eigene Stückentwicklung benötigt man noch viel mehr Zeit, weil man den fertig geschriebenen Text eben nicht hat, nur die Idee“, sagt Bianca Sue Henne. Für „Fridays for Future“ hatte sie allerdings so viel Zeit wie für eine Produktion, bei der es schon einen Text gibt. Außerdem verletzte sich in der Probenzeit noch eine Schauspielerin, sodass eine Person für die Tanz-Parts noch in letzter Sekunde umbesetzt werden musste.
3) So entwickelt ein Ensemble ein eigenes Stück
Zunächst muss man wissen, dass das Stück eine Montage mehrerer Szenen ist, die in Bezug auf die Handlung nicht aufeinander aufbauen. Der Tanz und die Intensität der einzelnen Szenen bilden den Spannungsbogen, der sich über das Stück spannt.
Daher gibt es auch keine fest verteilten Rollen, die sich im Stück immer wiederfinden. Die Schauspieler*innen verkörpern meistens keine konkreten Personen.
Wie nun die einzelnen Szenen gestaltet wurden?
Zunächst verständigten sich die Beteiligten auf eine Ausgangssituation.
„Erstens gibt es einen Klimawandel, der zweitens durch den Menschen zumindest verstärkt wird. Drittens können wir daher mit umweltbewusstem Handeln zu dessen Verlangsamung beitragen“, erklärt die Regisseurin Bianca Sue Henne diese.
Ohne eine Textvorlage war diese das erste, woran das Ensemble arbeitete. Für die Erarbeitung von Szenen gibt es viele mögliche Methoden. Henne arbeitete viel mit Improvisation.
Schauspieler*innen lernen in ihrer Ausbildung, mit welchen Methoden sie eine Figur auf- und ausbauen und herausfinden, wie diese sich in verschiedenen Situationen verhalten würde. „Man kann aber niemals voraussagen und damit erlernen, wie sich eine Figur in einer Situation verhalten wird. Ich muss in einer Figur offen für den Moment sein und mich auch überraschen lassen können,“ fügt Svea Bein hinzu.
So wurde dann beispielsweise aus einer Kolumne im SPIEGEL und den Improvisationen der Schauspieler*innen ein Text.
Außerdem hat Henne Teile der Hintergrundrecherche unter den drei Mitwirkenden auf der Bühne aufgeteilt. Sie sollten etwas über die Themen Fleisch, die Bekleidungsindustrie und das Plastik, was ihnen im Alltag begegnet, herausfinden. Das habe einige Beteiligte überrascht und schockiert. „Je mehr Informationen wir gesammelt hatten, desto mehr habe ich auch mich selbst und mein eigenes Verhalten beobachtet“, sagt Coco Plümer, eine weitere Schauspielerin.
Aus den mitgebrachten Texten und Informationen aller entstanden lebhafte Diskussionen, Erstaunen und Überforderung (siehe 5) So ist das Stück auf der Bühne).
4) So hat der nachhaltige Inhalt des Stücks auch dessen Form beeinflusst
Bei dieser Inszenierung sollte das Thema Nachhaltigkeit auch hinter, auf und vor den Kulissen gelten.
So gut wie alles ist recycelt: Die Kostüme stammen aus dem Theaterfundus und wurden an einigen Stellen upcycelt, um das Ensemble einheitlich auftreten zu lassen. Der Druck auf den T-Shirts wurde in Parchim in Auftrag gegeben. Die Turnschuhe und Sport-BH der Schauspielerinnen Svea Bein und Coco Plümer waren Teil einer Kollektion aus recycelten Materialien.
Das minimalistische Bühnenbild besteht hauptsächlich aus Vitrinen. Sie waren ein Geschenk an das Theater, als ein Museum aufgelöst wurde.
Die darin enthaltenen Requisiten kommen entweder aus dem Fundus, sind gebraucht gekauft oder selbst gesammelt. Sie stehen für Themenfelder, die im Stück angesprochen werden. „Eine Vitrine ist gefüllt mit gesäubertem Plastikmüll“, sagt Björn Pauli, Requisiteur am Jungen Staatstheater.
Viele Texte, die im Stück verbaut sind, existierten so oder so ähnlich schon einmal irgendwo vorher. Die Videoeinspieler wurden beispielsweise auf Plattformen im Internet hochgeladen.
Diese außergewöhnlichere Umsetzung war der Regisseurin Bianca Sue Henne sehr wichtig.
Zu 100 Prozent ließ es sich aber doch nicht durchziehen mit der Nachhaltigkeit. Nach langem Suchen entschied sich das Team, die Leinwand anfertigen zu lassen. Sie muss passgenau sein, um auch für weitere Produktionen (das macht sie ja wieder ein Stück nachhaltiger) sowie in den Theaterraum zu passen. Auch die Beleuchtung in den Vitrinen betraf das.
Trotzdem sei das kein „Greenwashing“, sagt Kai Friebus, der dritte auf der Bühne bei „Fridays for Future“. „Wir vertuschen keine dunkle Wahrheit. Wie in jedem anderen Unternehmen arbeiten am Theater unterschiedliche Menschen. Die einen achten mehr auf ihren ökologischen Fußabdruck, die anderen weniger“. Ein anderes Teammitglied sieht die Bemühungen um Nachhaltigkeit aller Beteiligten deutlich positiv. Doch besteht der Wunsch, diese auch auf andere Produktionen zu übertragen und weiterzuverfolgen. Mehr dazu in 6) So setzen die Mitarbeiter*innen die Denkanstöße weiter um.
5) So ist das Stück auf der Bühne
Wie bereits erwähnt ist das Stück eine Montage, die verschiedene Situationen und Unterthemen des Komplexes „Nachhaltigkeit und Klimaschutz“ behandelt.
Wie und auf welcher Grundlage diese Szenen entstanden, erfährst du im Block 3) So entwickelt ein Ensemble ein eigenes Stück.
„Wir wollten weder eine konkrete Handlungsanweisung für das Publikum an den Schluss setzen noch Klimawandelleugner*innen Platz einräumen“, sagt die Regisseurin Henne.
„Ich verstehe das Stück als einen Denkanstoß. Wenn jede*r etwas mitnimmt und so Redebedarf entsteht, ist das toll. Das haben wir bei der Entwicklung ja selber durchlebt“, sagt auch Coco Plümer. Ob das Thema so wirklich bei den Schüler*innen ankommt und sie ihr Verhalten reflektieren, lässt sich natürlich schwer kontrollieren.
Einige selbstbewusste Stimmen gab es bereits. Ein paar Schüler*innen sagten über die Inszenierung, dass sie das Thema Klimaschutz so immerhin besser greifen konnten. Ein Rap von Kai Friebus auf der Bühne mache das Problem des Fleischkonsums viel anschaulicher als ein Text auf einem Arbeitsblatt in der Schule. „Das ist das Schöne an Kunst generell. Dass sie auf einer emotionalen Ebene anregt, die oft viel weiter greift als trockene Fakten und Statistiken in einem Lehrbuch es können“, sagt auch Svea Bein.
Das scheint Bianca Sue Henne also geschafft zu haben – ihr sei es wichtig, Emotionen zu wecken und am Ende eine „euphorisierende Aufbruchsstimmung“ zu schaffen.
In welche Richtung die geht, kann dann jede*r Zuschauer*in selbst entscheiden. Oder darüber sprechen – denn nach der Vorstellung gibt es auf der Bühne eine Nachbereitung mit der Theaterpädagogin Anne Wittmiß.
Das Format entwickelte die Geheime Dramaturgische Gesellschaft. Wittmiß und Henne wählten es deshalb, weil die Themen der Inszenierung „in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert werden.“ Das wollten sie mit dieser Art von Gespräch auch nach der Vorstellung abbilden: Alle Zuschauer*innen kommen zunächst auf die Bühne. Alle Gedanken und Fragen, die sie zur Inszenierung haben, schreiben sie auf Post-its und kleben diese dann im Bühnenraum an eine Stelle, die mit dieser Frage oder diesem Gedanken zu tun hat. Im zweiten Schritt können alle herumgehen und andere Post-its schriftlich kommentieren. Zuletzt darf und soll – auch mit den Künstler*innen – über das Geschriebene gesprochen und diskutiert werden.
„Ich mag die Nachgespräche mit unserem Publikum sehr. Gerade weil die Stimmen so vielfältig und unterschiedlich sind“, sagt Coco Plümer. Auch Kai Friebus findet es sehr „adäquat für die Zielgruppe, um mit dem Publikum in den Austausch zu kommen“.
Anne Wittmiß berichtet von ihren Erfahrungen: „Manche Zuschauer*innen bringen neues Wissen mit und hinterfragen mehr. Mit anderen Gruppen stagnieren die Gespräche schneller, weil die Zuschauer*innen eher auf ihrer Meinung beharren oder Probleme zwar erkennen, aber sie als alternativlos ansehen“. Manchmal fehle auch vertieftes Wissen, um die eigene Meinung zu unterfüttern.
Einige Schülerinnen kamen einmal zu Bianca Sue Henne und haben sich explizit von der Meinung ihrer Lehrerin distanziert. „Sie haben mir gesagt, dass sie mit dem Tanz sehr wohl etwas anfangen konnten und nicht zu abstrakt war, wie ihre Lehrerin meinte. Dann gehe ich mit einem guten Gefühl nach Hause“, sagt die Regisseurin. Schließlich seien eben Kinder und Jugendliche die Hauptzielgruppe der Sparte.
6) So setzen die Mitarbeiter*innen die Denkanstöße weiter um
Theater arbeiten schon oft nachhaltig – aus personellen und finanziellen Gründen. So werden bei jeder Produktion zunächst Kostüme und Requisiten im Fundus gesucht. „Es war auch nicht schwieriger oder leichter, dieses Stück auszustatten, da ich immer erst den Fundus auskundschafte“, sagt der Requisiteur Björn Pauli. „Allgemein lassen sich aber modernere Stücke leichter ausstatten.“
Grenzen der Nachhaltigkeit gebe es immer. „Wenn wir unsere Kostüme waschen, seien sie auch noch so nachhaltig produziert, löst sich Mikroplastik“, sagt Bianca Sue Henne. In Bezug darauf sieht sie einen weiteren Vorteil dieser Produktion: Dass die Ideen des Teams bezüglich der Kostüme relativ flexibel waren. Für Kolleg*innen, die sehr genau wissen, wie das Resultat aussehen soll, sei Nachhaltigkeit in der Herstellung sicherlich eine größere Herausforderung, weil dann sehr viele Kompromisse gemacht werden müssten. „In meinen 14 Jahren am Theater habe ich aber schon gemerkt, dass sich das Bewusstsein für Nachhaltigkeit verbreitet hat“, so die Regisseurin.
Das Junge Staatstheater Parchim bemüht sich auch über die Grenzen der Inszenierung hinweg um Nachhaltigkeit. Im Oktober 2019 war das Kinder- und Jugendtheaterfestival „Wildwechsel“ in Parchim am Jungen Staatstheater zu Gast. Die benötigten Materialien wie Bleistifte wurden von einer nachhaltig produzierenden Firma bezogen. Im großen Drucker des Theaters gibt es eine Schublade für Schmierpapier, die Mitarbeiter*innen trennen den Müll im ganzen Haus. Um die Ecke gibt es eine Kantine, bei der sie sich oft ihr Mittagessen holen – auf einem Teller und ohne Verpackung.
Eine Person aus dem Team um „Fridays for Future“ merkt an, dass beispielsweise in der Maske noch nicht so umweltfreundlich gearbeitet werde, wie es möglich wäre. Auch wird im zweiten Standort Schwerin etwa nicht auf Mülltrennung auf den Fluren geachtet.
„Es gibt immer etwas zu verbessern“, sagt Bianca Sue Henne. „Bei meiner nächsten Produktion brauchten wir für alle Schauspieler*innen ein bestimmtes Paar Stiefel – das ging nicht ohne sie neu zu kaufen.“
7) Zur Verantwortung des Stücks
Wenn sich etwa ein Theater mit einem solch sensiblen Thema beschäftigt, scheint automatisch eine Art Verantwortung hinzuzukommen, ein Anspruch, dass es auf diesem Gebiet Vorbild sein sollte – vor allem beim Thema Klimaschutz. Analog merkt man das beispielsweise, wenn Schüler*innen auf einer Demonstration der Bewegung „Fridays for Future“ vorgehalten wird, dass sie neu gekaufte Kleidung tragen und daher in keiner Weise hinter echtem Klimaschutz stehen würden.
Hinzu kommt, dass „Fridays for Future“ eine Stückentwicklung ist und es deshalb schwieriger sei, „sich davon zu distanzieren oder sich aus der Verantwortung zu ziehen“, da das Stück gewissermaßen die „Handschrift“ der Beteiligten trage, sagen die beiden Schauspielerinnen.
In der Theaterpädagogik stand für die Mitwirkenden vor allem der Diskurs im Fokus (siehe 5) So ist das Stück auf der Bühne). „Weil das Theaterstück keine Lösungen vorgeben kann, ist es wichtig, dass das Publikum sich seine eigenen Gedanken macht und sich mit den Themen auseinandersetzt“, so Theaterpädagogin Wittmiß.
„Was man uns vielleicht unterstellen kann, ist, dass wir im Team das Thema Klimaschutz auch privat ernst nehmen. Das klingt sicherlich in dem Stück auch durch, verfolgt aber keinen vom Theater vorgegebenen Plan, sondern hat sich durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelt“, sagt Coco Plümer.
Theater ist Kunst – und somit frei in den Inhalten, die es auf der Bühne präsentiert. Damit geht grundsätzlich keine spezielle Verantwortung gegenüber irgendetwas oder irgendwem einher. Doch ist es sehr passend, dass sich das Ensemble für diese Inszenierung auch selbst Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben hat – und das Thema auch darüber hinaus nicht vergisst.
Natürlich gibt es einige Ecken und Kanten, die man dem Team hinter der Inszenierung vorhalten kann, dass es irgendwo noch besser hätte gehen können.
Was Coco Plümer eigentlich über den Zugang zum Publikum sagte, passt jedoch auch hier: „Wenn jede*r ein Ende zum Anknüpfen findet, an dem sie oder er vielleicht kleine Dinge zu ändern bereit ist, dann ist schon viel gewonnen.“
Noch mehr Bock auf Bühnenkunst?